Brief der Ilse Löwenstern

(„Judenhäuser“/KZ Buchenwald/NS-Euthanasie)

Bestandteil der Vertreibung und systematisch geplanten Auslöschung jüdischer Bürger war die Zusammenlegung der jüdischen Bevöl-kerung in so genannten „Judenhäusern“. Bereits kurz nach dem Novemberpogrom (9./10. November 1938) sprach sich Göring für eine Zusammenlegung in einzelnen Häusern aus.

Mit dem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 beabsichtigte man die Isolierung der Juden von der nichtjüdischen Bevölkerung. Jüdische Bewohner sollten gegebenenfalls unter Zwang in wenigen „Judenhäusern“ konzentriert werden.

Unter Aufhebung des gesetzlichen Mieterschutzes wurden alte Mietsverhältnisse sukzessiv aufgelöst und die jüdischen Bewohner dazu gezwungen, in vorgegebenen Häusern zu wohnen. Jüdische Bewohner hatten ihre Mietwohnungen oder Eigentum aufzugeben und wurden mit anderen Familien zusammengepfercht. Mietverträge mit Juden waren nun genehmigungspflichtig.


Kirchstr

  

Die jüdischen Einwohner Korbachs lebten bis 1933 über der ganzen Stadt verstreut (38 Wohnadressen in 21 Straßen). Bis 1941 verblieben ihnen nur noch fünf „Judenhäuser“. Man wies sie in Häuser jüdischer Eigentümer ein: Kirchstr. 13 (Familie Löwenstern), Lengefelder Str. 11 (Familie Katz), Grabenstr. 3 (Louis Lazarus), Hagenstr. 12 (Familie Lebensbaum) und Professor-Kümmell-Str. 13 (Brüder Mosheim). Nach erfolgter erster Deportation (14 jüdischer Bürger) im September 1941 verblieben nur noch drei Häuser.

 

Kirchstraße 13

 

 

Es handelt sich um eine gesetzliche Vorbereitung zur Zusammenlegung jüdischer Familien, die die Kontrolle und Überwachung der jüdischen Bewohner (z.B. durch die Gestapo) erleichterte und gewachsene nachbarschaftliche Beziehungen unterband.

Das Haus Kirchstr. 13 erwarb 1883 der jüdische Kaufmann Bernhard Löwenstern. Nach dem Tod des Vaters übernahm 1910 der Sohn Gustav das Haus, in dem er mit seinem Bruder Adolf einen Tabakgroßhandebetrieb.

Adolf wurde wegen seiner kleinen Statur scherzhaft auch „Metermännchen“ genannt. Aufgrund massiver Boykottmaßnahmen geriet der Tabakgroßhandel bereits vor der Machtübernahme in wirtschaftliche Schwierigkeiten, die zum Ruin des Geschäfts führten.

Die Tochter Ilse Löwenstern schildert in einem Brief vom 27.08.1992 an Karl Wilke das wechselvolle Schicksal ihrer Familie:

„Wie […] bereits bekannt, wurde meine Mutter im Jahre 1941 aus ihrer Wohnung in der Kirchstraße 13 von der Gestapo in ein sogenanntes "Judenhaus" nach Wrexen deportiert und von dort im Jahre 1942 in ein Konzentrationslager in den Osten (über Kassel), von wo sie nicht zurückgekehrt ist.
Laut Mitteilung des Magistrats Korbach wurde das Haus Kirchstraße 13 zum "Judenhaus" erklärt und dort viele jüdische Menschen einquartiert.
Auch mein Bruder Bernhard hatte ein sehr schweres verfolgungsbedingtes Schicksal: Im November 1938 wurde er, wie noch viele andere jüdische Männer aus Korbach, in ein K.Z. befördert. Nachdem er aus dem K.Z. Buchenwald, von dessen Aufenthalt er mir nur ungern einige grausige Dinge mitgeteilt hat, wieder entlassen wurde, wurde er nach Ausbruch des Krieges wiederum verhaftet und ist in dem K.Z. in Cholm verstorben. Diese Nachricht hat meine Mutter leider noch zu ihren Lebzeiten erhalten.
Mein Vater war bereits am 26.02.1938 an einem Herzinfarkt verstorben. Sicherlich war sein Tod wesentlich von den ihn psychisch und wirtschaftlich hart treffenden Verfolgungsmaßnahmen verursacht oder zumindest mitverursacht worden, denn:
Die offene Handelsgesellschaft Gebrüder Löwenstern (Tabakwarengroßhandlung) unterlag schon mehrere Jahre vor der N.S. Machtergreifung nach den Wahlsiegen in Waldeck und vor allem zunächst in Upland einem schweren Boykott, weil die Kundschaft, die neben Einzelhändlern aus Gastwirten bestand[,] unter scharfem Druck der N.S. Partei stand, und in Gastwirtschaften fanden Parteiversammlungen statt. Außerdem bemühte sich ein rabiater S.S.-Mann mit Hilfe von politischen Druckmitteln sich auf Kosten der jüdischen Firma in deren Branche selbständig zu machen. (Dieser hatte den Beinamen "Schreck von Waldeck".)
Mein Bruder mußte aus wirtschaftlichen Gründen mit der Obersekundareife anstelle von Abitur das Gymnasium [Alte Landesschule] verlassen, kam stattdessen zu Verwandten in die kaufmännische Lehre […].
Seit der "Kristallnacht" 1938 war es sehr schwierig geworden, in fast allen europäischen Ländern noch eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten […]. Die einzige Möglichkeit meinen Angehörigen noch helfen zu können, sah ich in meiner eigenen Auswanderung, um vom Ausland aus meine Mutter und meinen Bruder nachkommen zu lassen. Denn ich hatte im Jahre 1939 das Glück, von einer bekannten englischen christlichen Familie in Indien eine Anstellung als Hauslehrerin und Erzieherin zu erhalten[…].
Um so größer war der unbeschreibliche Schock […] als 2 Tage danach der Krieg ausbrach und ich ahnte, daß dieser die Auswanderung meiner Angehörigen zunichte machen würde.“

Löwenstern Ilse Kirchstr

Ilse Löwenstern (vorn in der Mitte) 1926, Schülerinnen der Höheren Töchterschule

Was Ilse Löwenstern und ihre Mutter nicht wissen konnten, war, dass Bernhard – der unter einer geringfügigen körperlichen Beeinträchtigung litt - auf bestialische Weise Opfer des national-sozialistischen Euthanasie-Programms Aktion T 4 wurde.

Bereits seit Januar 1940 wurde in Brandenburg a.d. Havel die Tötung von Menschen durch Kohlenmonoxid erprobt. Ab Februar wurden bis zum Oktober 1940 fast 9 000 psychisch Kranke und behinderte Menschen aus Nord- und Mitteldeutschland, auch jüdische Patienten, in der Gaskammer ermordet. Bernhard Löwenstern wurde am 1. Oktober 1940 Opfer des NS-Vernichtungswahns.

1941 waren allein in der Kirchstraße 13 - zeitversetzt - 16 Personen unter beengten Wohnverhältnissen einquartiert. Die Bewohner waren zwischen 1855 und 1911 geboren. Viele Bewohner waren ältere Menschen und allein stehende Frauen.

Die ältesten Bewohner waren rund 85 Jahre, der jüngste, Alfred Kaufmann, an die 30 Jahre alt. Der Durchschnitt lag bei 50 bis 70 Jahren. Allein im Dezember 1941 wurden sieben Personen in das Haus Kirchstraße 13 eingewiesen.

Viele Kinder – oft auf sich alleingestellt - hatte man noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Ausland in Sicherheit zu bringen versucht.

Aufgrund der Zwangsumzüge mussten jüdische Bürger Teile ihres Besitzes (Möbel, Geschirr etc.) verschleudern, Hauseigentümer waren gezwungen, Eigentum zu Dumpingpreisen zu veräußern.

Es bot sich die Möglichkeit der Bereicherung. Willkommener Nebeneffekt war die Wohnraumbeschaffung für die „arische“ Bevölkerung.

Um an die Wohnungen der jüdischen Bürger zu gelangen, wurden „Wohnungsumsetzungen“ oft auch von „deutschen Volksgenossen“ in Gang gesetzt. Die Konzentrierung in so genannten „Judenhäusern“ erfolgte in Korbach vergleichsweise spät.

In Hameln z.B. waren Konzentrierungsmaßnahmen bereits seit Sommer 1940 im Wesentlichen abgeschlossen. In Hannover kam das Gesetz verstärkt im September 1941 und in Korbach zwischen Dezember 1941 bis Januar 1942 zur Anwendung.

 

Doch nicht erst mit dem Erlass vom 30. April 1939 haben jüdische Bürger ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen. Bereits Mitte der 30er Jahre lässt sich gerade bei der jüdischen Bevölkerung ein häufigerer Wohnungswechsel konstatieren, der auf der einen Seite mit stärkeren antisemitischen Tendenzen konform geht, und auf der anderen Seite mit der rapiden Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation.

Jüdische Arbeitsnehmer verloren ihre Arbeitsstellen (u.a. der Postbeamte Bernhard Lebensbaum oder der jüdische Lehrer Louis Meyer), systematisch wurden Juden aus dem deutschen Wirtschafts-leben ausgeschlossen. Die so genannte Arisierung der Betriebe und Sperrung der Vermögen leisteten ihr Übriges.

Der Bewegungs- und Lebensraum der jüdischen Menschen wurde immer mehr eingeschränkt. Sie litten unter einer Vielzahl behördlicher Anordnungen. Führerscheine, Fahrräder, Telefone, sogar ihre Haustiere hatten sie abzugeben.

Für die Korbacher Juden war Einkaufen nur noch in der Mittagspause zwischen 14 Uhr und 15 Uhr erlaubt, in einer Zeit, in der die Läden für nichtjüdische Bewohner geschlossen waren. Händler waren keineswegs verpflichtet, Juden zu bedienen.

01. September 1939: Mit dem Überfall auf Polen werden in Deutschland 
Ausgangssperren für Juden festgelegt (Sommer ab 21 Uhr und im Winter ab
20 Uhr).
23. Januar 1940: Juden erhalten keine Reichskleiderkarte.
29. Juli 1940: Telefonanschlüsse für Juden werden gekündigt.
24. September 1940: Der antisemitische Propagandafilm „Jud Süß“ wird
uraufgeführt.
01. September 1941: Einführung des Judensterns im Deutschen Reich ab dem 19.
September für alle Juden vom sechsten Lebensjahr an.
14. Oktober 1941: Erste Deportationsbefehle für deutsche Juden aus dem „Altreich“.
23. Oktober 1941: Auswanderungsverbot für Juden.

Mit der Einführung des Judensterns war jedem Außenstehenden ersichtlich, wer Jude war. Dies stellte eine weitere Stigmatisierung dar. Aus Angst und Scham trauten sich nur noch wenige Korbacher Juden auf die Straßen.

Was mit den ursprünglichen Einrichtungsgegenständen geschah, ist unbekannt. Nachweisbar wurden Gegenstände auch an Nachbarn verkauft. Der Rest wurde vielleicht in den Kellern und Dachböden der zugewiesen Judenhäuser zwischengelagert.
Gegenstände, die im Rahmen der Deportation in Korbach zurückgelassen wurden, fielen u.a. an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und fanden nunmehr „arische“ Besitzer. Darüber hinaus finden sich Hinweise, dass die NSDAP Verkäufe von Haushaltsgegenständen durchgeführt hat.

Im Juli 1942 erhielten die letzten jüdischen Bewohner von der Polizei die Aufforderung, sich zum Transport bereitzuhalten. Akribisch wurde ihre Ummeldung registriert.

Meldekarte Katz Salomon 3

Meldekarte von Johanne Katz: 30.12.1941 Zwangsumzug in das so genannte „Judenhaus“ Kirchstraße 13, „Wegzug“ 17.7.1942 Kassel, Sammellager Große Rosenstr. 22 (jüdisches Altersheim), † 26.09.1942 Konzentrationslager Theresienstadt

Am Ende der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verdrängung stand die physische Vernichtung in den Konzentrationslagern. 

 

 

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