Antijüdische Propaganda

(Antisemitismus)

Antisemitismus ist eine alte Erscheinungsform. Jüdische Lebensformen und Sozialneid haben schon im Mittelalter zu Pogromen und zur Gettoisierung der Juden geführt. Die neue Variante des Judenhasses, wie sie im 19. Jahrhundert entsteht, ist der rassische Antisemitismus, der die Minderwertigkeit der „jüdischen Rasse“ biologisch begründet und den Völkermord legitimiert. Liberalismus, Sozialdemokratie, Kommunismus, Kapitalismus und Pazifismus galten als Bestandteile der „jüdischen Weltverschwörung“ und waren zu bekämpfen.

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Der Begriff Antisemitismus kam in den 1870er Jahren des Kaiserreichs auf und entstand im Umkreis des Publizisten Wilhelm Marr im Kontext rassistischer Diskurse und erlebte während des Nationalsozialismus seinen barbarischen Höhepunkt, der in die Ermordung von sechs Millionen jüdischer und jüdisch definierter Menschen mündete.

Nach dem Ersten Weltkrieg häuften sich antisemitische Tendenzen auch in Korbach, die nicht mehr nur religiös, sondern rassistisch begründet waren.

Man warf den Juden vor, „Kriegsgewinnler“ und „Warenschieber“ zu sein. In Waldeck trat der „Deutschvölkische Bund, Landesverband Kurhessen in Cassel“ antisemitisch in Erscheinung.

Bei der Bekämpfung des Antisemitismus waren die jüdischen Organisationen wie der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und der überkonfessionelle „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ weitgehend auf sich gestellt.

Von den nationalen Politikern als „Judenparteien“ verhetzt, traten die häufig von Juden gewählte DDP (Deutsche Demokratische Partei) und die Sozialdemokratie nahezu als einzige Parteien dem Antisemitismus entgegen.

Neben dem „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ wandten sich 1919 Korbacher Sozialdemokraten gegen antisemitische Hetze. Angriffe gegen das Judentum steigerten sich derart, dass sich die Korbacher Sozialdemokraten in einem Demonstrationszug dazu genötigt sahen, öffentlich gegen derartige Missstände vorzugehen.

Darüber hinaus erschien am 29. September 1919 in der Waldeckischen-Landeszeitung ein entsprechender Aufruf des Sozialdemokraten Friedrich Behle:

„Statt in ehrlichem Kampf für Ihre politischen Ideale zu streiten, suchen gewissenlose Hetzer die Bevölkerung gegen die Juden aufzubringen, auch in unserer sonst so friedlichen Waldeckischen Heimat! Seit Monaten ergießt sich eine wahre Flut antisemitischen Schmutzes durch die Gassen! Nicht etwa im hellen Licht des Tages […] werden Häuser und Zeitungsmasse unter dem Schutze mitternächtlicher Dunkelheit […] verziert.“

Die Juden, die im Deutschen Reich weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmachten, wurden während der Weimarer Republik zum Sündenbock einer traumatisierten Gesellschaft. Man machte sie nicht nur für den verlorenen Ersten Weltkrieg, sondern auch für Inflation, Parlamentarismus, Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und vieles mehr verantwortlich.

Antisemitismus diente als Erklärungsmuster für alles soziale und wirtschaftliche Unglück und diente als Bindeglied, mit dem Probleme konkretisiert wurden, um Republikskeptiker als Anhänger zu gewinnen.

Gängige Stereotype, die den Juden zum Träger negativer Rasse- und Charaktereigenschaften stilisierten, stützten sich auf antisemitische Propaganda des Kaiserreichs und völkische Rassegedanken.

Vor allem im Mittelstand und im Bildungsbürgertum fiel der Antisemitismus auf einen optimalen Nährboden. Die Angst vor vermeintlicher jüdischer Konkurrenz verfestigte insbesondere bei Kleinhändlern, Gymnasiasten und Akademikern antisemitische Tendenzen.

Jüdische Geschäfte wurden in besonderem Maße Zielscheibe nationalsozialistischer Attacken. Allein zwischen dem 29.3. und 16.4.1934 gingen bei sechs jüdischen Bürgern Korbachs Scheiben zu Bruch und wurde Eigentum beschädigt, u. a.: 

Antijüdische-Propaganda

„1.) 29./30.3.34 zwei Schaufensterscheiben des Kaufmannes Julius Löwenstern eingeschlagen.


2.) 31.3.34 Schaufensterscheibe des Kaufmanns Nussbaum durch zwei Schüsse zertrümmert und ein Schuss auf die Schaufensterscheibe der Witwe Löwenstern abgegeben.


3.) 7.4.34 Firmenschild des Kaufmanns Mosheim zertrümmert, der Lagerschuppen mit Farbe beschmiert und das Dach des Schuppens mit den Worten beschmiert: »Corbach erwache.«“

 

Weitere entwürdigende Praktiken sollten folgen.

 

Antijüdische Propaganda,
Herbst 1934

 

 

 

Nationalsozialisten bekundeten unverhohlen in der Professor-Bier-Straße, wie sie mit Personen verfahren würden, die noch „zum Juden stehn“.

     

 

Beschriftung:   „Halali

„So müsst es Allen denen gehen,
die heute noch zum Juden stehn.“

 

„Tobt auch die Reaktion,
wir tragen
doch den Sieg davon!“

 

Professor-Bier-Straße, Oktober 1934, die Stelle findet man heute, wenn der Blick oberhalb der Metzgerei Tent in Richtung Nikolai-Kirche gerichtet wird.

 

 

 

 

 

Diese antisemitische Propaganda beschäftigte sogar die „Staatspolizeistelle Kassel (Regierungsbezirk)“. Im Tagesbericht an die Geheime Staatspolizei in Berlin vom 26. Oktober 1934 ist zu lesen:

„Die Propaganda gegen das Judentum in Corbach ist nach wie vor besonders lebhaft. Die Bürgersteige sind nachts wiederholt mit entsprechenden Beschriftungen versehen worden. In der Nacht vom 19. zum 20.10.[19]34 wurden in einer Strasse der Stadt zwei grosse Puppen an einem Baum aufgehängt […].
Ich habe als politische Polizei keinen Anlass genommen, einzuschreiten, habe aber die Ortspolizeibehörde aufgefordert, zunächst wegen groben Unfugs einzuschreiten“

Die Übergriffe auf jüdische Bewohner steigerten sich im gesamten deutschen Staatsgebiet derart, dass sich die Parteiführung der NSDAP zwischen 1934 und 1935 mehrfach genötigt sah, Terrorakte gegen Juden zu verbieten.
Diese Vorgehensweise basierte aber nicht auf Nächstenliebe, sondern es war der NSDAP-Spitze wichtig, ihre Handlungs- und Verfügungskompetenz zu gewährleisten, die ihnen zu entgleiten schien. Außerdem befürchtete man internationale Proteste.

Antisemitische Hetzkampagnen nahmen in der Folgezeit groteske Züge an. So ließen die Korbacher NSDAP-Parteigenossen Kuhnhenn und Nieschalk im Sommer 1935 antisemitische Schilder anfertigen, die vom NSDAP-Ortsgruppenleiter Casselmann verfasste Vierzeiler trugen.

In einem Propagandamarsch führte man die judenfeindlichen Schilder durch Korbach, um sie anschließend an festgelegten Stadteingängen aufzustellen. Nach Aufstellung aller Schilder sprach NSDAP-Ortsgruppenleiter Casselmann am Hauptbahnhof zu den versammelten „Volksgenossen“ und gab die Texte der soeben aufgestellten „Wegweiser“ bekannt, wie:

„Halt! Bist du Jude, dann mach kehrt! Hier wird der Eintritt dir erschwert. Wenn auch „christlich“ du getüncht, bei uns sind Juden unerwünscht!“

„Halt! Bist du Deutscher, dann bleibe fest! Meide den Juden wie die Pest! Schließe die Tür, laß ihn nicht ein, dein Enkel noch wird dir dankbar sein!“

„Deutsche Mädels, deutsche Frauen! Hütet euch vor Judenklauen! Wer den Juden hat erkoren, ist fürs deutsche Volk verloren!“

„Wanderer, trittst du in diese Stadt, bedenk, daß sie deutsche Geschäfte hat! Kaufst du das Kleinste beim Juden ein, wirst du immer ein Judenknecht sein.“

 

Aufstellung des antijüdischer Schildes „Wanderer, trittst du in die Stadt“ in der Arolser Landstraße, August 1935

 

 

 

 

Albert Nieschalk, NSDAP-Propagandawart,

später Ortspropagandaleiter

 

 

 

 

 

 

Aber damit nicht genug. Neben diesen Schildern ließ die NSDAP-Ortsgruppe „kleine Juden“ aus Holz anfertigen, die auf ihrem Bauche die Worte „Juden unerwünscht“ trugen. Diese Holzjuden wurden an den Eingängen aller Gastwirtschaften des Ortsgruppenbereiches angebracht.

Die Genehmigung war hierzu vorher von den Gastwirten und Hotelbesitzern eingeholt worden. Nur eine Gastwirtschaft schloss sich dieser Vorgehensweise nicht an: Gastwirtschaft Padberg in Eppe.

An allen anderen Häusern des Ortsgruppenbereichs aber prangten Pappschildchen mit der Aufschrift: „Jüdischen Händlern und Reisenden sowie Vertretern jüdischer Firmen ist der Zutritt zu diesem Hause untersagt. Zuwiderhandlung wird als Hausfriedensbruch geahndet.“

Das Treiben der Korbacher Ortsgruppe blieb sogar der amerikanischen Presse nicht verborgen. Im November 1934 fragt A. W. Partak vom „The German Echo“ (Miami-Florida) bei einem Kollegen der Waldeckischen Landeszeitung an:

„[...] und nun geht durch die amerikanische Presse eine Nachricht aus Korbach [...] daß der dortige Ortsgruppenbonze eine Anordnung verfügt hat, alle christlichen Käufer in nicht „arischen“ Geschäften sollten photographiert werden und ihre Namen öffentlich dem Pranger übergeben werden. [...] Bitte klären Sie mich auf, ob wirklich eine derartige Aufforderung an die braven Korbacher dort ergangen ist.“

Wie verhielten sich Korbacher Einwohner? Tendenziell lassen sich drei Gruppierungen ermitteln.
Da war zum einen die Gruppe der nationalsozialistisch indoktrinierten Aktivisten und Überzeugungstäter, die selbst vor Gewalttaten und Übergriffen nicht zurückschreckten, neben der überwiegenden Zahl an Mitläufern, Sympathisanten und der so genannten „schweigenden Mehrheit“, die aus Gedankenlosigkeit, Desinteresse, Angst, Verkennung der eigentlichen Situation, bedacht auf ihr eigenes Fortkommen, billigend negative Konsequenzen für die jüdischen Mitbürger in Kauf nahmen, sich im nationalsozialistischen „Wohlfahrtsstaat“ (vielfach auf Kosten anderer) einrichteten und wegsahen, wenn ein jüdischer Schüler von einem nationalsozialistisch eingestellten Korbacher Lehrer zusammengeschlagen wurde [Bericht eines Zeitzeugen].

Es gab aber auch die kleine Gruppe der Oppositionellen, die für ihre Ideale mitunter Leib und Leben aufs Spiel setzten, gesellschaftliche Stigmatisierungen, Benachteiligung, Zuchthaus und Internierung in Konzentrationslagern in Kauf nahmen, wie Friedrich Altenhein, Wilhelm Seibert, Daniel Flocke, Friedrich Wiggert, Friedrich Schulz, Max Mohaupt, Friedrich Bracht, Hans Habermann oder Bernhard Sturm.

Nicht wenige von ihnen saßen als Gegner des Nationalsozialismus im Zuchthaus, Arbeitserziehungs- und Konzentrationslager. Friedrich Schulz starb  1942 an den „Folgen seiner Inhaftierung“, viele weitere kehrten gebrochen aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern zurück. Obwohl die Korbacher Einwohner angehalten wurden, nicht bei jüdischen Geschäftsleuten einzukaufen, widersetzten sich einige den ausdrücklichen Forderungen. So wurde der Viehhändler Albert Löwenstern immer wieder gern um Rat gefragt, wenn es um landwirtschaftliche Belange ging.

Die jüdischen Einwohner blieben stets freundlich, hilfsbereit und großzügig. Gelegentlich schenkten sie nichtjüdischen Kindern so genannte „Judenmatze“ (ungesäuertes Brot), dennoch standen sich auf einmal jüdische und nichtjüdische Mitschüler als Gegner gegenüber.

Zu viele Deutsche ließen sich blenden und machten sich bereitwillig zu Handlangern eines unmenschlichen Systems. Desinteresse, politische Apathie, eigene Unzulänglichkeit und Einschüchterungsmaßnahmen leisteten ihr Übriges.

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