Die israelitische Gemeinde
Gemeindegründung, Bildungswesen, jüdische Lehrer und
Gemeindevorsteher, Schul- und Synagogenbau
Haus Unterstraße 5
Erbaut von S. Wittgenstein 1848 als Destillerie, abgerissen
in den 60er Jahren. Heute ist an dieser Stelle
der Parkplatz der Waldecker Bank. Vor dem Neubau der
Synagoge 1895 befanden sich in dem Gebäude der Synagogenraum
der Korbacher Juden und auch der Gottesdienstraum
der Katholiken bis zum Bau der Marienkirche im Jahr
1911.
Die Synagoge ist wohl die älteste Institution jüdischen
Lebens und hat einen dreifachen Zweck. Sie dient als
Gebetsstätte, als Schule und als Ort der Begegnung. Ein
besonderes sakrales Gebäude ist nicht unbedingt nötig,
der Gottesdienst kann in jedem Raum abgehalten werden.
Vorhanden sein muß ein Vorbeterpult und ein Thoraschrank
zur Aufbewahrung der Thorarollen. Frauen und Männer sitzen
beim Gottesdienst getrennt, die Frauen meist im Hintergrund
(Seitenteil oder Empore). Der Gottesdienst wird
vom Vorbeter (auch Vorsänger, Lehrer, Rabbiner) geleitet.
Nachdem in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts mehrere
jüdische Familien vom Waldecker Fürsten als sogenannte
Schutzjuden die Erlaubnis zur Niederlassung in Korbach
bekommen hatten, gründete die Korbacher Judenschaft bereits
im Jahre 1770 eine israelitische Gemeinde und gab
sich durch den
"Gütlichen Vertrag unter der Judenschaft zu Corbach
vom 7. Januar 1770"
eine Gemeindeverfassung, in welchem die Organisation der
Gemeinde, ihre Organe, die Rechnungs- und Kassenführung,
die Armenpflege usw. geregelt wurde. Die Verwaltung der
Gemeinde erfolgte durch Inspektoren (auch Erheber genannt)
, denen - wie es im Vertrag heißt - "Macht und
Gewalt, Oberhand und Aufsicht" über alle Ceremonialsachen
übertragen wurde.
Der Vertrag hat folgenden Wortlaut :
"Wegen eines errichteten gütlichen Vetrages
- unter der Judenschaft zu Corbach –
Der Anfang vor allen Dingen ist die Furcht Gottes,
auch sind alle Menschen schuldig, sich zu fügen und
zu gehen den gerechten Weg, hauptsächlich in der
Synagoge oder Versammlung, die da wird gerufen
"Kleiner Tempel". Das Gebet wird nicht erhört, es
sei denn an dem beständig dazu bestimmten Ort: der
Synagoge. Also sind wir schuldig, einzuführen unter
einer Gemeinde wahrhaftiger Israeliten, wie wir
unterschreiben alle wie einer und insgesamt mit
gutem Willen und Einwilligung zu allen Punkten, die
hiermit ausführlich beschieden und verabredet wurden:
- haben wir uns auserwählt zwei Erheber oder sogenannte
Kastenmeister und Aufseher, an welche Macht
und Gewalt gegeben worden, die Oberhand und Aufsicht
auf alle Ceremonial-Sachen zu haben,
- wer da nicht stehet in der Synagoge zu diesem Gott
dem allmächtigen mit Furcht und ganzem Herzen oder
sich gelüstet zu tun sonstige Sachen, so auf solchem
Ort unschicklich sind oder verursacht hat,
seinen Nächsten von dem Gebet abzuhalten, oder zu
der Zeit, da die Thora ausgehoben und gelesen wird,
sich nicht gebührend aufführet,
- sollen die Erheber solche Übertretungen mit allen
möglichen Zwangsmitteln zu bestrafen und Wiedergutmachung
nach geschehenen Vergehen befugt sein,
- sind wir sämtliche Unterschriebene nicht vermöge,
die geschehene Bestrafung abzuändern oder zu erlassen
- es geschehe denn durch unparteiische Richter,
- sollen die unten erwählten Erheber und Aufseher jedesmal
auf ein Jahr verbleiben und soll von einem
der Erheber allein keine Macht sein, einen Pfennig
zu erheben ohne Bewilligung und Vorwissen des zweiten
Erhebers, und soll sich der Erheber eine Quittung
als Beleg erteilen lassen, um sich damit bei
dem andern Erheber nach Verlauf des Jahres zu verrechnen,
- sollen die dermaligen Erheber verbunden sein, bei
Übergabe ihres Amtes eine genaue Rechnung vor den
nachfolgenden Erhebern abzulegen,
- die Gutscheine (Billets) für den Unterhalt der reisenden
Armen und Notdürftigen sollen den Erhebern
gegeben und in einer verschlossenen Büchse verwahrt
werden, wobei einer der Erheber die Büchse und der
andere den Schlüssel haben soll und die alle ein
oder zwei Monate abwechseln sollen,
- sollen die Erheber gehalten sein, über die benötigten
Lichter in der Synagoge, am Sabbat und an anderen
Feiertagen die Aufsicht zu haben und dafür zu
sorgen,
- ebenso ist es erforderlich, daß die Gutscheine für
die Armen so ausgestellt werden, daß alle hier wohnenden
Schutzjuden sich hiermit verbindlich machen,
jeder für die Anzahl der Gutscheine, die seinem
festgelegten Vermögensansatz entspricht, ohne die
geringste Verzögerung oder Kürzung. Diese Schreiben
auszustellen, sollen die Erheber von der Versammlung
Macht und Gewalt haben,
- gedachte Erheber sollen auch gehalten sein, diese
Zettel zu entwerfen und rechtmäßig aufzuschreiben
wieviel ein jeder jedesmal zur Armen- und Schulkasse
schuldig, um solche Beträge zu erheben,
- soll sich niemand gelüsten lassen, in der Bezahlung
säumig zu sein oder gegen den Erheber ungeziemende
Worte auszustoßen,
- endlich geben wir hiermit den Erhebern Kraft und
Macht, die Übertreter dieser Bestimmungen nach Beschaffenheit
ihres Verbrechens zu bestrafen und
wenn die Bestrafung nicht befolgt wird, so sollen
die Erheber befugt sein, die angesetzte Strafe von
Tag zu Tag zu verdoppeln; von dieser Strafe soll
die Hälfte an unsere gnädigste Herrschaft und die
andere Hälfte in unsere Armen- und Kollektenkasse
gezahlt werden, um damit den Übertretern zu zeigen,
daß Gott und Richter auf der Welt sind,
- die Erheber sollen eingesetzt und erwählt werden
mit Recht, Gerechtigkeit und Gewissen, aber nicht
mit List oder Falschheit, sondern so wie Recht und
Brauch unter Israeliten, das mit Falschheit nicht
verknüpft sein darf.
So setzen wir Unterzeichnende einen bewilligten und
verbliebenen Vermögensansatz, wonach die jedesmaligen
Erheber alle Auslagen und sonstige notwendige
Steuern, die zum Unterhalt der hiesigen Judenschaft
betreffs der Synagoge oder zur Versorgung der Armen,
sowie der übrigen Zeremonialien eine gerechte
Repartivierung (= anteilmäßige Verteilung) machen
können, und zwar:
Sirnon Salomon
1100 Taler
Isaak Nathan 100 Taler
Lefman Ascher 500 Taler
Elias Lazarus 300 Taler
Reineman Emanuel 700 Taler
Schließlich haben alle zur Bestätigung und Bekräftigung
einzeln und eigenhändig unterschrieben, daß
alles vorstehende geschehen, mit gutem Willen und
ohne den geringsten Zwang, wobei wir zu Erhebern,
Armenkastenmeistern und Aufsehern aus der Gemeinde
erwählt: Lefman Ascher und Isaak Nathan allhier .
. Dieses alles ist geschehen den 10. Tag in Tebas 530
nach der hebräischen kleinen Zahl, welches gewesen
am 7. Januar 1770.
Sirnon Salomon
Isaak Nathan
Lefman Ascher
Elias Lazarus
Beineman Emanuel
Der bei der Gemeindegründung eingesetzte Betrag von 2700
Taler war für die damalige Zeit eine recht stattliche
Summe, die ein ordnungsmäßiges Gemeindeleben ermöglichte.
In Korbach war also schon sehr frühzeitig (die Korbacher
Judenschaft bildete wohl die erste Gemeinde im damaligen
Fürstentum Waldeck) ein organisiertes Gemeindeleben entstanden.
Das war schon 60 Jahre früher als unter dem
Fürsten Georg Heinrich durch das Gesetz über die Gemeinheiten
(Gemeindeangelegenheiten) der Juden vom
15.07.1833 per Gesetz Jüdische Gemeinden gegründet wurden,
denen jeder Glaubensgenosse anzugehören hatte. Die
Gemeinden verwalteten sich unter staatlicher Aufsicht
selbst; sie erhielten im Innern eine weitgehende Autonomie
und konnten ihre religiösen, erzieherischen und sozialen
Angelegenheiten und Aufgaben selbst regeln. Vorsteher
und Rechnungsführer waren zu wählen; ein Vorsänger
zur Leitung des Gottesdienstes und ein Lehrer zur
Erteilung des Religionsunterrichts waren anzustellen,
wobei es zulässig war, die beiden Funktionen in einer
Hand zu vereinigen. So geschah es durchweg in den kleineren
jüdischen Gemeinden, die finanziell nicht in der
Lage waren für jede Funktion hauptamtlich tätige Personen
anzustellen. Auch in Korbach leiteten die Lehrer den
Gottesdienst und übten durchweg nebenher noch andere
Erwerbstätigkeiten aus, denn die Besoldung war offenbar
sehr mäßig.
Durch das Gesetz von 1833 wurde auch die Führung eines
Synagogenbuches vorgeschrieben, in dem Geburten, die
Trauungen und Sterbefälle einzutragen waren. Die Bücher
wurden zunächst vom Gemeindevorsteher und seit 1859
durch die Pfarrer der Korbacher St. Kiliansgemeinde
geführt. Die Personenstandsbuchführung oblag bis 1875
den Kirchen und Religionsgemeinschaften , ab 1876 wurden
reichseinheitlich Standesämter eingerichtet, denen das
Personenstandeswesen übertragen wurde.
Die Register der jüdischen Gemeinde mußten während der
Zeit der Judenverfolgung nach 1933 an das Reichssippenhauptamt
Berlin abgegeben werden. Glücklicherweise blieben
Mikrofilme erhalten, so dass über das Hessische
Hauptarchiv Wiesbaden Rückvergrößerungen für das Stadtarchiv
beschafft werden konnten.
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